»Wenn ich noch mal auf die Welt käme, würde ich es wieder genauso machen!«

Zu Besuch im Atelier der Künstlerin Özlem Sahin

Ein versteckter Innenhof am Rande der Altstadt. Unauffällige Hauseingänge. Kein Schild, das auf ein Atelier hinweist. Doch irgendwo hier muss sie sein, die Kreativwerkstadt der Castrop-Rauxeler Künstlerin Özlem Sahin.

Farben, Formen und Gemütlichkeit

Ich strecke den Arm aus, drücke die Klingel, gelange in einen verlassenen Flur. »Hallo?«, ruft es von rechts. »Kommen Sie rein!« Ich folge der Stimme – und betrete eine Wolke aus Farben, Formen und Gemütlichkeit. »Hereinspaziert«, begrüßen mich meine beiden Interviewpartner, die sich gleich mit Vornamen vorstellen: Özlem und Stefan. »Sie müssen Frau Dittrich sein.« Ich erkläre, dass ich nicht die Dittrich bin, sondern die Kollegin, die Lüddecke, wir einigen uns auf Pia. Kurz darauf sitze ich im gemütlichsten Sessel der Welt und bekomme einen großen Kaffee in die Hand gedrückt. Zwei Katzen streichen durch den Raum, der wie eine Wohnküche eingerichtet ist. Das Radio läuft leise im Hintergrund. Und überall stehen Staffeleien mit Leinwänden. Die Luft ist so erfüllt von Kreativität, dass man sich am liebsten ein Stück davon abschneiden würde … Moment mal – sind wir jetzt in einer Wohnung oder in einer Werkstatt?

»Wenn Malkurse stattfinden, ist das wie Freunde zu Besuch zu haben«

»Beides«, verrät Özlem Sahin, die seit 2008 als freischaffende Künstlerin in Castrop-Rauxel tätig ist. Seit 2017 findet man sie in den Räumlichkeiten der ehemaligen Druckerei Welter am Brückenweg, direkt unter der ›Tanzetage‹. »Für mich ist die Verbindung von Leben und Arbeiten die optimale Lösung, da ich paratstehen muss, wenn mein Sohn mittags aus der Schule kommt«, erzählt sie. »Außerdem sollen sich meine Gäste wie zu Hause fühlen.« »Wenn Malkurse stattfinden, ist das wie Freunde zu Besuch zu haben«, erläutert Stefan Höing. »Die nehmen sich erst mal ’nen Kaffee und quatschen.« Er gehört seit einem Jahr zum ›Inventar‹ und unterstützt seine Lebensgefährtin bei organisatorischen Aufgaben. »Ich habe aber auch schon an einem Bild mitgewirkt«, berichtet er stolz. »Das bleibt hier irgendwie nicht aus.« Und auch auf den siebenjährigen Tijan hat die schöpferische Atmosphäre inzwischen abgefärbt. »Wobei Tijan eher pragmatisch veranlagt ist«, verrät seine Mutter mit einem Augenzwinkern. »Wenn er Stifte zur Hand nimmt, dann um die Bilder zu verkaufen und sein Taschengeld aufzubessern.«
Özlem Sahin und Stefan Höing

Wir danken dem Stadtmagazin Castrop-Rauxel für den Gastbeitrag:

Wenn ich noch mal auf die Welt käme, würde ich es wieder genauso machen!

Du findest den Originalartikel im: Stadtmagazin Castrop-Rauxel, Artikel von S. 6 in Ausgabe 141 (11/2021)
Autorin: Erika Killing-Overhoff

Künstlerische Karriere begann mit drei Jahren

Die gebürtige Hattingerin Özlem Sahin malt, seit sie denken kann. »Das klingt immer lustig, aber es ist wirklich so«, schmunzelt sie. »Ich habe mit drei angefangen.« Während andere Kinder Strichmännchen zeichneten, brachte Klein-Özlem bündelweise Weintrauben zu Papier. »Das müsst ihr fördern, hieß es!« Und doch hätte wohl niemand damit gerechnet, dass dieses Mädchen einmal Ausstellungen gestalten, Schüler unterrichten und Auftragsarbeiten für prominente Kunden durchführen würde. Zunächst absolvierte sie eine Ausbildung zur Gestaltungstechnikerin. Die Kunst blieb Hobby – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Als Özlem Sahin sich schließlich für ein Studium am Institut für Ausbildung in bildender Kunst und Kunsttherapie IBKK in Bochum entschied, blickte sie bereits auf langjährige Erfahrungen im freien Malen zurück. »Man lernt ja nie aus. Zum Beispiel habe ich erst an der Akademie entdeckt, dass Pastellkreide total schön ist. Man kann fotorealistisch malen, obwohl man die Finger benutzt. Für mich ist Pastellkreide die trockene Alternative zur Ölfarbe, die ja als Königin der Farben gilt.«

Zwischen figurativ und abstrakt

Zu Hause im Atelier arbeitet Özlem Sahin meist mit Acrylfarbe. Die ist einfach praktischer, trocknet schneller als Öl. Auch verschiedene Druck- und Stempeltechniken kommen zur Anwendung. Porträts und Körper haben es ihr besonders angetan. Die Spannung zwischen Figurativem und Abstraktem, Sichtbarem und Verborgenem ist in vielen Werken gegenwärtig. Hier späht eine mysteriöse Schönheit hinter einem roten Theatervorhang hervor, dort wird das Gesicht einer Frau zur Hälfte von Mustern überlagert, als schimmere es durch eine Seidengardine. »Ich finde abstrakt toll, merke jedoch immer wieder, dass ich am Ende trotzdem beim Bildhaften lande. Ich brauche zumindest einen Anhaltspunkt. Selbst bei einem Gemälde, das nur aus bunten Farbtupfern besteht, würde ich drei Tage davorsitzen und eine Form herausarbeiten. Vorher fühlt es sich einfach nicht vollendet an.« Ihre zweite Leidenschaft – man würde es nicht vermuten – sind teure Autos. Aber natürlich nur als Motiv auf der Leinwand. Für den Weltfußballer Lukas Podolski fertigte sie ein Bild von dessen rotem Mustang an, welches anschließend für den guten Zweck versteigert wurde.

»Richtig hingucken ist die halbe Miete«

Seit nunmehr zehn Jahren gibt Özlem Sahin ihr Know-how in VHS-Kursen an interessierte und kreative Menschen weiter. Denn: Malen ist ein Handwerk, das ihrer Meinung nach jeder erlernen kann. »Richtig hingucken und die Form begreifen, das ist die halbe Miete«, sagt sie. Was das bedeutet? »Nehmen wir das Glas mit den Keksen vor uns auf dem Tisch: Beim ersten Blick ist es nur ein Behälter. Doch was sehen wir wirklich? Wie fällt das Licht auf das Glas? Welche Reflexe entstehen dabei? Wie sind die Kekse geformt und übereinandergestapelt? Ich liebe diese Glücksmomente, wenn Menschen, die vorher noch nie einen Stift in der Hand gehalten haben, plötzlich Fortschritte spüren.« Sie lächelt. »Kunst ausüben und anderen beibringen ist für mich eigentlich gar keine Arbeit, es ist wie Urlaub. Wenn ich noch mal auf die Welt käme, würde ich es wieder genauso machen!«

Jubiläumsfeier & Gemeinschaftsausstellung

Was für ein schönes Fazit! Leider ist mein Kaffee leer und ich muss zurück an den Schreibtisch. Aber ich werde bestimmt wiederkommen: Am 20. November öffnet die Kreativwerkstatt ihre Pforten zur Feier des 10-jährigen Jubiläums. Neben einer kleinen Ausstellung gibt es einen Live-Mal-Act mit Spendensammlung für das zukünftige Kinderhospiz Sonnenherz an der Dortmunder Straße (Elisabeth-Grümer-Stiftung), Verlosungen sowie jede Menge Gelegenheit für die Besucher, sich kreativ auszutoben. Eingeladen sind einfach alle, die das Geschehen im Atelier erleben oder sich künstlerisch ausprobieren möchten. Das werde ich mir nicht entgehen lassen! »Selbstverständlich ist der Besuch bei uns auch jederzeit während der laufenden Kurse oder nach Terminabsprache möglich«, betonen Özlem und Stefan. »Wir wollen ein offenes Haus für kunst- und kulturinteressierte Menschen sein!« Am dritten Dezember startet außerdem die Gemeinschaftsausstellung ›Ruhr-Kunst-Gebiet‹ mit Künstler*innen aus der Region im Bürgerhaus. Eine neue ›Gesichter-Serie‹ von Özlem Sahin ist bereits in Arbeit …

Jubiläumsfeier in der Kreativwerkstatt

20.11. · 14–19 Uhr · Brückenweg 3
44575 Castrop-Rauxel
Weitere Infos · www.malenincastrop.de

›Ruhr-Kunst-Gebiet – we did it again‹

Gemeinschaftsausstellung
03.12. · Bürgerhaus

© correctum Verlag

Autorin: Erika Killing-Overhoff

Du findest den Originalartikel im:
Stadtmagazin Castrop-Rauxel, Artikel von S. 6 in Ausgabe 141 (11/2021)